Neben dem Originaltext und einer Übersetzung macht eine Wort-für-Wort-Glossierung ein Verstehen und insb. eine eigene Beurteilung einer Übersetzung bzw. eines darauf aufbauenden Arguments für den/die fachfremde/n Leser/in oft erst möglich. Glossierung kann man je nach Zweck in unterschiedlichen Detailgraden betreiben, d.h. mit mehr oder weniger grammatischen Informationen anreichern. Insbesondere die hieroglyphischen, die keilschriftlichen und allg. die vokallosen Schrift-, Transliterations- und Transkriptionssysteme stellen in der Praxis der Glossierung eine besondere Herausforderung dar.

Anwendungsbeispiele
Raumsprach-Forschung: Sie wollen die Verteilung von räumlichen Informationen im Satz genau angeben — z.B. nachvollziehbar machen, dass im Deutschen Rauminformationen mit dem Kasus kodiert werden können: in dem Haus vs. in das Haus … glossiert: in dem Haus (in the:DAT house) vs. in das Haus (in the:ACC house).
Metaphern-Forschung: Sie wollen neben dem Originaltext und einer adäquaten Übersetzung auch die wörtliche Bedeutung der Einzelwörter darstellen. Z.B. ägypt. qʀw xrw “die mit lauter Stimme’ … glossiert: qʀ:w xrw  (high_ones voice)  “die mit lauter Stimme’ oder optional linguistisch qʀ-w xrw  (high-M.PL voice(M)[SG])  “die mit lauter Stimme’.
Argumentationen im Zusammenhang mit Wort- und Phrasen-Bedeutungen: Traditionell werden die originalsprachlichen Textpassagen nur zusammen mit einer Übersetzung präsentiert, z.B.
   wnn bw rx st wʕ mt=k tm dt ʕm py=k jt m=s
“Wenn nicht ein Einziger davon weiß, so sollst du auch nicht deinen Vater davon wissen lassen’.
LeserInnen, die der Originalschrift und -sprache nicht mächtig sind, haben keine Möglichkeit, sich über die “Qualität’ der Übersetzung und die Belastbarkeit der darauf aufbauenden Argumentation auch nur im Ansatz eine Meinung zu bilden: Handelt es sich um eine eher originalsprachlich orientierte, “wörtliche’ oder eher um eine zielsprachlich orientierte, “interpretierende’ Übersetzung? Haben einzelne übersetzte Begriffe (z.B. “wissen’) eine bestimmte etymologische Kernbedeutung, die von der übersetzungssprachlich angemessenen Übertragung verschleiert wird (— in diesem Fall z.B. rx “kennenlernen; wissen’ und ʕm “schlucken; wissen’)? Solche Fragen sind insbesondere auch bei eher begrifforientierten Forschungen interessant oder auch im Falle von religiösen, philosophischen und wissenschaftlichen Texten, bei denen potentiell jedes Wort diskussionswürdig sein kann. Auch in diesem Fall kann die Wort-für-Wort-Glossierung in einer pragmatisch abgespeckten Variante eine gute Lösung darstellt. So kann man den oben zitierten Satz einfach und effektiv wie in Bsp. 1 glossieren. Erst jetzt wird erkennbar, dass an den zwei Übersetzungsstellen mit “wissen’ wohl zwei verschiedene Nuancen von “wissen’ angesprochen sind, sowie dass der Verknüpfung “so sollst (du)’ originalsprachlich nur eine vergleichsweise wenig präzise Koordination entspricht. Der Detailgrad der Glossierung sollte sich dabei an der Fragestellung orientieren. Eine detailliertere Glossierung wie in Bsp. 2 ist eher nur in linguistisch ausgerichteten Forschungen nötig.

(1) wnn bw rx st wʕ mt =k tm dt  ʕm  py=k jt m=s
if_is not knew it one and=you do_not give may_swallow the_one_of=you father from=she

“Wenn nicht ein Einziger davon weiß, so sollst du auch nicht deinen Vater davon wissen lassen.’ (Übersetzung TLA, IH)

(2) wnn bw rx st wʕ mt =k tm dt  ʕm  py=k jt m=s
is:SBJV not know: PFV it one COORD=2SG.M not_do:INF give:INF swallow:SBJV POSS:M.SG=2SG.M father(M) from=2SG.F

“Wenn nicht ein Einziger davon weiß, so sollst du auch nicht deinen Vater davon wissen lassen.’ (Übersetzung TLA, IH)
Literatur

The Leipzig Glossing Rules: Conventions for Interlinear Morpheme-by-Morpheme Glosses, ed. by the Department of Linguistics of the Max Planck Institute for Evolutionary Anthro­pology (Bernard Comrie, Martin Haspelmath) and by the Department of Linguistics of the University of Leipzig (Balthasar Bickel), Leipzig (online).

Camilla Di Biase-Dyson, Frank Kammerzell & Daniel A. Werning, Glossing Ancient Egyptian: Suggestions for Adapting the Leipzig Glossing Rules, in: Lingua Aegyptia. Journal of Egyptian Language Studies 17 (2009), 243–266 (online).

Zielpublikum

Der praxisnahe Workshop richtet sich an ForscherInnen, die wissenschaftlich anhand von Texten und Sprachdaten argumentieren und ihre textbasierten Argumente auch für fachfremde ForscherInnen verständlich, d.h. nachvollziehbar und beurteilbar machen wollen — und zwar sowohl an solche ForscherInnen, die noch kein Vorwissen zur Glossierung haben, als auch an solche, die etwas theoretisch-praktisches Vorwissen mitbringen, aber nach einer Möglichkeit suchen, die Methode mit beratender Hilfestellung selbst (erstmals) auszuprobieren oder Hilfestellung bei der technischen Umsetzung in Textverarbeitungsprogrammen suchen.

Ablauf

Bei dem Workshop soll es nach einer generellen Einführung in die Methode und Überlegungen zu deren Sinnhaftigkeit vor allem darum gehen, dass Sie sich jeweils an Beispielen Ihrer Schriftsysteme/Sprachen praktisch ausprobieren und dabei Unterstützung bekommen — sowohl inhaltlich als auch EDV-technisch (Unicode, Textsatzprogramme). Idealerweise bringen Sie einen eigenen Probetext und ein Laptop mit (am besten mit Eduroam-WLAN-Zugang). Hilfestellung werden Ihnen insbesondere leisten:
– Ägyptisch; Allg. Sprachwiss.; EDV: Daniel Werning (Topoi Lab C)
– Griechisch; Allg. Sprachwiss.: Thanasis Gerorgakopoulos
– Keilschriften; Hurritisch u.a.: Sebastian Fischer
andere Sprachen/Schriften sind natürlich sehr willkommen!
Idealerweise bringen Sie bitte mit (falls es ihre Zeit/Organisation erlaubt):
– Laptop (gern mit kostenlosem, universitätsunabhängigem Eduroam-Zugang vorinstalliert: Eduroam Installation mit HU-Accout, Eduroam Installation mit FU-Account)
– Ca. 2-3 beliebige Beispielsätze zum Üben aus der Sprache mit der Sie sich beschäftigen.
Anvisierter Ablaufplan
10Uhr-10:50   Word-by-word glossing, purpose and possible fields of application (ThG/DW)
11:50-11:00   – kleine Pause –
11:00-12:00   Methode der Wort-für-Wort-Glossierung (DW)
12:00-12:15   – kleine Pause –
12:15-13:00   Unterstützte Übung an eigenen Textbeispielen in Gruppen (DW/SF/ThG)
13:00-14:00   — Mittagessen / Mensa —
14:00-15:00   Feedback aus den Gruppen zu den Übungen und Diskussion (alle)
15:00-15:15   – kleine Pause –
15:15-16:00   Technische Umsetzung in Word/Writer: effizient und robust (DW)
Ort: Hausvogteiplatz 5-7, 3. Stock, Raum 319 (alt: 340c)

Kontakt: daniel.werning@topoi.org